Bachet-de-Pesay —
Hürden als Chancen nutzen
In Lancy bei Genf erstellte die Anlagestiftung Turidomus zusammen mit der kommunalen Wohnbaustiftung FCIL eine Überbauung mit 228 Wohnungen. Das Projekt der Architekten Jaccaud + Associés macht aus einer flüchtigen geografischen Bezeichnung einen städtebaulich fassbaren Ort.
Text: Werner Huber / Bilder: Pensimo
Bilder: Paola Corsini
Das Französische kennt einen malerischen Begriff für geografische Bezeichnungen, die keine Ortschaften sind: Lieu-dit. Ein solcher Lieu-dit ist Bachet-de-Pesay am Schnittpunkt der Gemeinden Lancy und Carouge bei Genf. Hier, an der Landstrasse Richtung Südfrankreich, stand in der Nähe des Weilers Pesay einst das Bachet, ein Wasserbecken, an dem die Reisenden ihre Pferde tränken konnten. Die Veränderungen, die dieser Ort in den letzten hundert Jahren erlebte, erinnern an Jörg Müllers Bildermappe «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder», in der der Illustrator vor über fünfzig Jahren die Veränderung der Landschaft dokumentierte. Auch am Bachet sind die idyllischen Wiesen und Felder längst verschwunden. Auf der Route de Saint-Julien rollt fast pausenlos der Verkehr der Grenzgänger aus Frankreich. In einem Tunnel unterquert der Autobahnzubringer aus dem Industrie- und Entwicklungsgebiet Praille-Acacias-Vernets (PAV) den Ort. Mit dem Depot der Verkehrsbetriebe TPG und der Haltestelle Bachet-de-Pesay als wichtigem Umsteigeknoten ist auch der öffentliche Verkehr präsent. Ein Quantensprung bedeutete Ende 2019 die Eröffnung des Bahnhofs Lancy-Bachet an der nach hundertjähriger Planungszeit fertiggestellten Verbindungsbahn Cornavin–Eaux-Vives-Annemasse (CEVA). Bloss sieben Minuten dauert jetzt die Fahrt von der einstigen Pferdetränke zum Genfer Hauptbahnhof Cornavin.
Das Alte muss weichen
Aus einer anderen Zeit stammte die Cité-Jardin du Bachet-de-Pesay, die sich unterhalb der Route de Saint-Julien an die Böschung duckte. 1931 hatte hier, auf der grünen Wiese, die Gesellschaft Le Logis salubre (Die gesunde Unterkunft) nach Plänen von Architekt Paul Perrin fünf dreigeschossige Häuserzeilen mit insgesamt 108 Wohnungen erstellt. Diese sollten helfen, die bereits damals grassierende Wohnungsnot zu lindern. Zur Bauzeit brachte die Cité-Jardin einen neuen Massstab nach Bachet-de-Pesay, doch in den folgenden Jahrzehnten wurde sie von der Entwicklung in ihrer Umgebung überrollt; städtebaulich war sie zuletzt kaum mehr wahrnehmbar.
Turidomus hatte 2003 die Cité-Jardin du Bachet-de-Pesay übernommen. Die Häuser waren im Inventar der Denkmalpflege verzeichnet. Allerdings waren die Wohnungen sehr eng und die Bausubstanz in schlechtem Zustand. Auf die ursprünglichen Flachdächer hatte man schon vor langer Zeit Walmdächer aufgesetzt. Ab 2012 stellte Turidomus die ersten planerischen Überlegungen an, wie an dieser zentralen Lage deutlich mehr und gesündere Wohnungen erstellt werden könnten. Dies führte zum Beschluss, die Altbauten abzubrechen.
Durch die bestehende Überbauung führte der öffentliche Chemin de Pesay im Eigentum der Gemeinde Lancy. Diesen Anteil des Areals übergab die Gemeinde an die eigene Wohnbaustiftung FCIL, und das Projekt wurde entsprechend aufgeteilt: Die grössere Parzelle mit fünf von sieben Eingängen und 156 Wohnungen gehört heute der Turidomus, die kleinere mit zwei Eingängen und 72 Wohnungen der FCIL.
Der Neubau setzt ein Zeichen
Bis zu zehn Geschosse ragt der Block mit insgesamt 228 Mietwohnungen empor und gibt so der grossen Strassenkreuzung an einer Seite eine räumliche Fassung. Zusammen mit dem Wohn- und Geschäftshaus Trèfle d’Or auf der anderen Strassenseite, von den gleichen Architekten für eine andere Bauherrschaft erstellt, entsteht eine Torsituation am Eingang zur Innenstadt.
So selbstverständlich diese Situation heute wirkt, so wenig definiert war sie zu Beginn der Planung. Anknüpfungspunkte für die neue Überbauung bot sie kaum. So loteten die Architekten ab 2016 in einem zweistufigen Wettbewerbsverfahren die städtebaulichen Möglichkeiten aus. Dabei orientierte sich das siegreiche Team um Jaccaud + Associés weniger am schwer fassbaren Lieu-dit, sondern an der Quartierstruktur im Westen des Grundstücks. In einem weiten Bogen führt dort die Avenue Eugène-Lance, begleitet von der Promenade Nicolas Bouvier für den Langsamverkehr, vom Dorfkern von Lancy bis zum neuen Bahnhof. Auf der einen Seite bietet die Strasse am Geländesprung einen Panoramablick über den tiefer gelegenen Rangierbahnhof La Praille, das Entwicklungsgebiet PAV und die Innenstadt von Genf. Auf der anderen Seite säumt eine Reihe von Wohnhausscheiben aus den 1960er-Jahren die Strasse. Hinter den Wohnbauten öffnen sich grosszügige, von weiteren Wohnhäusern durchsetzte Grünräume, die ein für Genf typisches Siedlungsgeflecht bilden. Jaccaud + Associés nahmen diese Typologie auf und schlossen das Quartier mit einem Gebäude im gleichen Massstab gegen Bachet-de-Pesay ab.
Die Fassade zur Avenue Eugène-Lance ist flach und fügt sich so in die Abfolge der benachbarten Wohnhäuser ein. An der Route de Saint-Julien hingegen gestalteten die Architekten die Fassade als gefaltete Fläche – ein Motiv, zu dem auch die Balkonbrüstungen am benachbarten Rundbau aus den 1960er-Jahren inspirierten. Mit dieser Faltung brachen die Architekten die Wucht des Eckgebäudes und vermieden den Eindruck einer «Chinesischen Mauer», wie der verantwortliche Partner im Architekturbüro, Stephan Gratzer, erläutert.
Weil über eine Hauptverkehrsachse wie die Route de Saint-Julien auch Gefahrentransporte rollen könnten, mussten die Neubauten 26 Meter von der Strasse zurückweichen, und die Hauseingänge durften nicht direkt in der Fassade liegen. Ein dicht mit Bäumen bepflanzter Grünstreifen schafft Distanz zwischen Strasse und Haus und dämpft auch den Lärm und den Staub des Verkehrs.
Laute Strasse, ruhiger Hof
Vor sechzig Jahren war der Ausblick auf Strassen und Autobahnen mitunter ein Argument in der Vermarktung von Wohnungen. Heute ist an den gleichen Orten die Lärmbelastung das grosse Problem. In Bachet-de-Pesay reagierten die Architekten mit einem Gebäude, «das sich selbst vor Lärm schützt», wie es Stephan Gratzer nennt. Gegen die Strasse zeigt sich der Neubau als kompaktes Volumen, gegen den Hof hat er hingegen eine kammartige, abgestufte Struktur. Dadurch minimierten die Architekten die Fassadenfläche auf der lauten Seite und maximierten sie auf der ruhigen Hofseite.
Dieser abwechslungsreich gestaltete Grünraum stammt von den Landschaftsarchitekten des Ateliers ADR. Da die Aussenkante der Einstellhalle relativ nah am Gebäude verläuft, konnten sie den weiteren Hof dicht mit Bäumen bepflanzen, die in die Höhe wachsen werden. Dieser grosse Hof nimmt eine Typologie auf, die für das Quartier und allgemein für den Genfer Wohnungsbau der Nachkriegszeit charakteristisch ist. Doch umschlossen damals hauptsächlich hoch aufragende Fassaden die Grünräume, erzeugt die abgetreppte Kammstruktur des Neubaus von Jaccaud + Associés mehrere Hofkammern, die die Wohnungen mit dem Grünraum verzahnen. Im Erdgeschoss am Hof liegt auch der kommunale Kinderhort der FCIL, während die Turidomus zwei kleine Geschäfts- oder Gastroflächen auf der Strassenseite anbietet. Vier öffentliche Durchgänge für den Langsamverkehr verbinden den Grünraum mit der Strasse.
Hohe Wohnqualität und moderate Preise
Aus Lärmschutzgründen war es notwendig, praktisch alle Wohnungen im Blockrand an der Strasse zum Hof durchzustecken und sämtlichen Wohn- und Schlafräumen ruhige Lüftungsfenster zu bieten. Jaccaud + Associés schufen trotzdem attraktive Grundrisse mit teils doppelgeschossigen Wohnräumen auf der Strassenseite. Zum einen sorgt die Ausrichtung nach Süden für viel Tageslicht, zum anderen öffnet sich ein weiter Blick über die Stadt zum Hausberg Salève und in die Alpen. Ab dem 7. Obergeschoss ist der Strassenlärm ausreichend gedämpft, sodass auch Loggien auf der Strassenseite funktionieren. Die Wohnungstypen im Blockrand haben relativ viele Zimmer und grosszügige Flächen. In den Fingern zum Hof sind dagegen eher kleinere und kompakte Wohnungen eingerichtet. Sie sind über Eck orientiert und stehen so in guter Beziehung zum Grünraum. Einzig die Wohnungstypen an den beiden Aussenecken – ein Teil davon für Wohngemeinschaften für Studierende – haben keine privaten Loggien auf der Hofseite. Die zweiseitige Orientierung – über Eck oder durchgesteckt – gibt aber allen Wohnungen räumliche Weite.
Da das Areal zu einem der grossen Entwicklungsgebiete des Kantons Genf – Zone de Développement – zählt, gelten strenge Vorgaben der Genfer Behörden. So ist unter anderem ein Anteil von 30 Prozent gemeinnütziger Wohnungen vorgeschrieben. Die 72 Wohnungen der FCIL liegen alle in diesem Segment. Sie werden sehr günstig vermietet oder von der Gemeinde an Sozialfälle vergeben. Im Gebäudeteil der Turidomus sind nur 12 Wohnungen von diesen stärksten Mietdeckelungen – sie haben eine Laufzeit von 50 Jahren – betroffen. Der mittlere Preis für diese Wohnungen liegt hier bei 4734 Franken pro Zimmer und Jahr (nach Genfer Rechnung zählt dazu auch die Küche) oder rund 260 Franken pro Quadratmeter und Jahr. Die Nettomiete einer 2½-Zimmer-Wohnung mit rund 55 Quadratmetern entspricht also 1180 Franken pro Monat.
Der grösste Teil der 156 Wohnungen der Turidomus gehört jedoch zu den vorgegebenen 70 Prozent im mittleren Segment. Hier liegen die Mieten nahezu auf Marktniveau und sind nur während der ersten zehn Jahre staatlich kontrolliert. 6148 Franken pro Jahr darf hier ein Zimmer nach Genfer Zählung kosten, wobei dieser Preis von rund 314 Franken pro Quadratmeter und Jahr zwischen unterschiedlichen Wohnungstypen etwas umverteilt werden konnte. Von den 132 Wohnungen in diesem Segment gehören 54 zu den durchgesteckten Typen zwischen Strasse und Hof. Diese Wohnungen sind geräumig, mit viel Verkehrsfläche und offenen Wohnbereichen, die teils nicht in die Mietzinskalkulation einbezogen werden durften. Durchschnittlich zählen sie 5 Zimmer (nach üblicher Rechnung) mit 110 Quadratmetern und kosten netto 2680 Franken pro Monat. Auch vom ganz anderen Wohnungstyp in den Fingern zum Hof gibt es 54 Stück. Diese Wohnungen sind sehr kompakt, mit wenig Gangflächen dafür mit grossem Fensteranteil. Sie zählen im Schnitt 4 Zimmer mit nur 80 Quadratmetern, die 2210 Franken pro Monat kosten.
Mit dem Charakter eines Tweed-Stoffs
Die Tragkonstruktion des Gebäudes besteht aus Beton, auch weil Sicherheitsvorschriften an dieser Lage ein massives Gebäude verlangten. Solide ist der Ausdruck der Fassade aus Ziegelsteinen und Betonfertigteilen. An der Aussenseite gliedern Betongesimse die Fassade in der Horizontalen. Der Sockel besteht aus Betonelementen, die übrigen Fassadenbereiche aus vertikal verlegten Ziegelsteinen in warmen Brauntönen – heller im unteren, dunkler im oberen Bereich. Die grobe Oberfläche des Klinkers aus Belgien und die hellen breiten Fugen sollen den Eindruck eines soliden Tweed-Stoffes erzeugen, erläutert Stephan Gratzer die Materialwahl. Mit glasierten Platten verkleidete Brüstungselemente binden die Fenster zu vertikalen Bändern zusammen. Mit diesen gestalterischen Massnahmen, die auf der Strassenseite vor allem aus der Ferne wirken, brachen die Architekten das grosse Volumen, ohne es zu verniedlichen. Hofseitig wurden die gleichen Materialien anders eingesetzt. Hier gibt es zwei breite durchlaufende Gesimse. Die dazwischenliegenden Geschosse sind zu Zweiergruppen zusammengefasst. So bindet die Materialisierung die vielen Loggien, Rücksprünge und Abtreppungen in die Logik der Gebäudestruktur ein und verstärkt deren Wirkung. Die zwei Hauseingänge der FCIL unterscheiden sich zwar in den Grundrissen stark von den Teilen von Turidomus, doch sind diese Unterschiede von aussen nicht abzulesen.
Zur Strasse sorgen Lamellenstoren für den Sonnenschutz, im Hof setzen rotbraune Stoffstoren dezente farbige Akzente. Diese gehören zum Farbkonzept, das Catherine Burkhard und Nora Fata aus Zürich entwickelt haben. Ausgehend von den verwendeten Baumaterialien wählten sie einen Farbklang aus drei warmen Farbtönen sowie den frischen Tönen Lila und Taubenblau. In den Durchgängen zwischen Hof und Strasse, an denen auch vier der Hauseingänge liegen, zeigen sich die Farbtöne an der Decke in einer künstlerischen Interpretation der verwinkelten Geometrie. In den grosszügigen Eingangshallen und den meist natürlich belichteten Treppenhäusern überziehen die Farben im Wechsel auch die Wände und erweitern so die Struktur des Raumes. Der Boden und die Treppenläufe aus hellem Terrazzo mit vielfarbigen Einsprengseln binden alles wieder zusammen. Aus dem gleichen Kunststein ist auch die quadratische Stütze im Eingang gefertigt, die so optisch als Teil des Bodens bis an die Decke reicht und als ordnendes Element den Raumeindruck massgeblich prägt.
Hindernisse sind auch Chancen
«Wie kann hier bloss etwas entstehen?», fragten sich die Architekten, als sie sich in Bachet-de-Pesay an die Planung machten. Der brandende Strassenverkehr, die Einschränkungen der Störfallverordnung und zunächst auch der Denkmalschutz der bestehenden Cité-Jardin waren Hürden, die sich nicht einfach überwinden liessen. Dem Team von Jaccaud + Associés mit dem verantwortlichen Partner Stephan Gratzer ist es gelungen. Sie verstanden die Zwänge als Herausforderungen. «Der fruchtbare Zwang», so überschreiben die Architekten ihren Projektbericht. Tatsächlich schufen sie an dieser schwierigen Stelle im Stadtgefüge ein Gebäude, das qualitativ hochwertigen Wohnraum bietet und einen Beitrag zur Linderung der Genfer Wohnungsnot leistet.
Der Neubau steht selbstverständlich an seiner Stelle. Er trägt dazu bei, dass aus dem Lieu-dit, diesem Knotenpunkt des Verkehrs, ein städtischer Ort wird. Weitere Projekte in der Umgebung werden diesen Prozess verstärken. Der erste Schritt ist gemacht.